Wenn Entscheidungsfreiraum fehlt: Die Grenzen von Zeitmanagement

Sandra kommt mit großen Erwartungen in mein Seminar: Zeitmanagement soll ihr endlich helfen, den Stress im Job zu reduzieren.

Torsten hat auch viel Stress im Job und sitzt im gleichen Seminar – aber bei weitem nicht so erwartungsfroh wie Sandra. Er wurde von seinem Chef geschickt weil dieser glaubt, Torsten könnte viel effizienter arbeiten. Torsten selber sieht das ganz anders und ist eher stinkig darüber, dass er hier sitzen muss.

Am Ende gehen beide mit der gleichen Erkenntnis nach Hause: Zeitmanagement kann ihr Problem mit dem Stress auf der Arbeit nicht lösen.

Auf den ersten Blick ist das verwunderlich: Beide haben auf der Arbeit mehr zu tun, als sie schaffen können. Und genau in solchen Fällen sollen doch Zeitmanagement-Methoden besonders gut helfen.

Daß das bei Sandra und Torsten nicht funktioniert, liegt an den fehlenden Freiheitsgraden. Um zu verstehen, was ich damit meine, werfen wir einen kurzen Blick auf die Arbeitssituation von Sandra und Torsten.

Sandras Aufgabe ist es, die Ergebnisse von anderen Kollegen weiter zu verarbeiten, sobald diese auf ihrem Schreibtisch landen – und zwar in der Reihenfolge, in der die Dinge bei ihr ankommen.

Und so schüttelt sie auch hilflos den Kopf als ich im Seminar von Priorisierung nach Wichtigkeit und Dringlichkeit spreche. Bei ihr ist alles wichtig und dringend, sobald es auf ihren Schreibtisch kommt. Und wenn dort zu viel landet, dann baut sich ein Stapel auf. Das ist leider der Normalzustand.

Torsten ist die Schnittstelle zum Kunden. In dieser Funktion muss er Angebote erstellen, Aufträge erfassen und Kundenprobleme lösen. Jedes Telefonat, das er nicht annimmt, kann verlorener Umsatz sein. Die Reaktion auf Emails im Minutentakt hat ebenfalls eine direkte Auswirkung auf das Geschäft.

Sein Chef bewertet ihn deswegen auch aufgrund von Zahlen: Angenomme Anrufe versus nicht angenommener Anrufe – und das gleiche mit der Anzahl beantworteter Emails.

Als ich Torsten vorschlage, ein Aufgabenliste zu führen, lacht er nur frustriert: „Wenn ich alles, was per Telefon oder Email reinkommt, in eine Aufgabe klimpere, dann mache ich den ganzen Tag nichts anderes als Aufgaben zu erfassen.“

Die starke Fremdsteuerung ist bei Sandra der Grund, warum etablierte Zeitmanagement-Methoden bei ihr versagen: Sie hat keinen Freiraum um eigene Entscheidungen zu treffen. Die Priorisierung von Vorgängen wurde von Kollegen bereits weiter vorne in der Bearbeitungskette getroffen.

Die einzige Stellschraube, die sie hat, ist ihre Geschwindigkeit zu erhöhen. Also mehr Vorgänge in gleicher Zeit zu bearbeiten. Deswegen ist sie sehr neugierig, als wir im Seminar zu dem Thema „Fokussierung“ und „konzentriertes Arbeiten“ kommen.

Sandra sieht die Möglichkeiten, die darin liegen – merkt aber auch, dass konzentriertes Arbeiten in einem Großraumbüro schwer umsetzbar ist. Die Geräuschkulisse ist leider sehr hoch. Erschwerend kommt hinzu, dass sie permanent von Kollegen unterbrochen wird: „Hast Du Vorgang XY schon bearbeitet? Das ist dringend.“

Diese Umstände kann Sandra zwar ansprechen und um Lösung bitten – aber sie hat es nicht selber in der Hand, etwas zu verändern. Das sind eher Themen der Teamorganisation.

Bei Torsten ist die Situation etwas anders: Die unglaublich hohe Taktung läßt es bei ihm nicht zu, dass er sich einen kompletten Überblick über alle Vorgänge verschaffen kann, um diese dann gemäß einer Priorisierungs-Strategie in eine Reihenfolge zu bringen und zu bearbeiten.

Erschwerend kommt hinzu, dass er nach Anrufstatistik bewertet wird. Permanente Unterbrechungen sind die logische Folge – und das kostet sehr viel Energie und Effizienz.

Auch Torsten hat nicht die Freiheit, um sich durch Einsatz von Zeitmanagement-Methoden Luft zu verschaffen und den Stress zu reduzieren.

Fazit
Für Zeitmanagement braucht es einen Entscheidungsfreiraum – und Zeit, diesen Freiraum zu nutzen.

Wenn jemand, wie in meinem Beispiel Sandra, keinen Entscheidungsfreiraum hat, dann können Zeitmanagement-Methoden nicht angewendet werden. Denn diese Methoden setzen voraus, dass es einen Freiraum gibt.

Und in einer Situation wie die von Torsten sorgen Vorgaben und Taktung dafür, dass ein möglicherweise vorhandener Entscheidungsfreiraum nicht genutzt werden kann, weil keine Zeit bleibt. Selbst wenn Torsten einen Freiraum zur inhaltlichen Priorisierung von Vorgängen hätte, hat er nicht den zeitlichen Freiraum diesen zu Nutzen – denn Telefon und Emails gehen immer vor.

Es müssen also passende Rahmenbedingungen vorhanden sein, damit Zeitmanagement-Methoden angewendet werden und ihren Nutzen entfalten können. Das ist vergleichbar mit agilen Projektmanagement-Methoden: Sie werden in vielen Unternehmen eingeführt, ohne dass die geeigneten Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die logische Folge ist, dass der Effekt dieser Methoden hinter den Erwartungen zurückbleibt.