Heute möchte ich einen Gedanken ausbreiten, bei dem es um „echte“ Entscheidungen und den Einfluss des Kontextes auf das individuelle Zeitmanagement geht.
Zeitmanagement entfaltet seine volle Wirkung vor allem dann, wenn man darüber entscheiden kann, was man wann tut. Wenn man eine Wahl hat und zu einigen Dingen „ja“ und zu anderen „nein“ sagen kann.
Wenn ich so darüber nachdenke, dann hatte ich in meinem Job in der Projektportfoliosteuerung diesbezüglich wenig Freiheiten. Was ich wann zu tun hatte, wurde durch Prozesse vorgegeben: Es stand fest, wann welche Gremien über Projektanträge entscheiden, wann welche Steuerungskreise stattfinden oder wann das monatliche Berichtswesen aller Projekte stattfindet. Und es stand fest, was ich dafür tun musste.
Ich musste also nur in den Kalender schauen um zu wissen, was als nächstes zu tun war. Dafür brauchte ich kein ausgefeiltes Zeitmanagement.
Im Grunde musste ich bezüglich meiner Arbeitsinhalte kaum „echte“ Entscheidungen treffen.
Echte Entscheidungen sind solche, bei denen es mehrere Optionen gibt, für die man sich entscheiden könnte, und es nicht auf der Hand liegt, welche Entscheidung die bessere ist. Bei jeder Option gibt es Argumente dafür und dagegen – aber welche Option besser ist, wird erst die Zeit zeigen.
Echte Entscheidungen sind also dann zu treffen, wenn man nicht über ausreichend Wissen verfügt (und möglicherweise auch nicht verfügen kann). Bei echten Entscheidungen gibt es immer auch Argumente dagegen. Sie sind also immer auch angreifbar.
Wenn es ausreichend Fakten & Wissen gibt, welche von mehreren Optionen man wählen sollte, dann trifft man keine „echte“ Entscheidung, sondern man tut angesichts der Faktenlage das einzig logische. Man führt also nur noch aus („Exekution“).
Wenn also Termine für die Entscheidung von Projektanträgen anstanden, habe ich das einzig logische gemacht: Ich habe diese Anträge vorbereitet. Und wenn das monatliche Berichtswesen vor der Tür stand, dann habe ich Projektberichte gelesen und kommentiert. Alles Andere, was sonst noch auf meiner ToDo-Liste stand, war in diesen Zeiten keine vernünftige Option.
Ich war in dieser Rolle also vor allem termin- und prozessgesteuert. Eine Werkzeug wie die Eisenhower-Matrix habe ich nicht anwenden können, weil ich nicht die Freiheit hatte, über die Wichtigkeit meiner Aufgaben zu entscheiden. Die Entscheidung über Wichtigkeit war bereits getroffen worden, als die Prozesse für die Projektportfoliosteuerung gebaut wurden.
Dieses Beispiel und die daraus abgeleitete Erkenntnis zeigen: Der Kontext Deines Arbeitsumfeldes entscheidet maßgeblich, wie viel und welches Zeitmanagement Du benötigst.
Wenn der Kontext vorgibt, wann Du was zu tun hast, brauchst Du nicht über die Wichtigkeit von Aufgaben entscheiden. Wenn es zu Deinem Job gehört jederzeit (und ich meine wirklich jederzeit) ein Ohr für Kunden oder Kollegen zu haben, dann brauchst Du nicht darüber nachzudenken, wie Du es hinbekommst mal in Ruhe und konzentriert einen Vorgang zu Ende zu bearbeiten.
Aus der Systemtheorie stammt die Erkenntnis, dass der jeweilige Kontext das Verhalten des Einzelnen mehr bestimmt als die individuellen Fähigkeiten. Das finde ich einen guten Impuls, um kritisch über das individuelle Zeitmanagement nachzudenken. Es könnte nämlich sein, dass ein unzureichendes Zeitmanagement kein Zeichen für die fehlenden Fähigkeiten eines Einzelnen ist, sondern eine Folge der Rahmenbedingungen.
Häufig habe ich Teilnehmer in meinen Zeitmanagement Schulungen sitzen, die entweder „geschickt“ wurden („Sie sollten dringend ihr Zeitmanagement verbessern“) oder die glauben, dass sie mit einem besseren Zeitmanagement ihren viel zu hohen Stresspegel in den Griff bekommen. Leider bekomme ich oft während des Seminars den Eindruck, dass die Zeitmanagement-Inhalte für den betreffenden keinen substantiellen Unterschied machen werden, weil viele der Ideen aus dem Zeitmanagement in dem speziellen Kontext nicht anwendbar sind. Es heißt dann oft. „Verstehe ich – kann man bei uns aber nicht machen“.
Das tückische am individuellen Zeitmanagement im Job ist die Annahme, dass Zeitmanagement etwas ist, was jeder für sich tut. Das finde ich deswegen tückisch, weil das eigene Zeitmanagement nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, sondern in den Kontext der Organisation oder Abteilung eingebettet ist. Und dieser Kontext gibt oft Rahmenbedingungen vor, die ein wirkungsvolles Zeitmanagement erschweren oder manchmal sogar unmöglich machen.
Beispiel: Es gibt Jobs, bei denen es zur Stellenbeschreibung gehört, sich durch jede Chat-Nachricht oder jede Email oder jeden Anruf sofort unterbrechen lassen zu müssen. Es wird also quasi eine Reaktion in Echtzeit erwartet – wie in einem Call-Center.
Auf der anderen Seite soll der gleiche Mitarbeiter individuell zugeschnittene Angebote für Kundenanfragen erstellen, für die er mal 30 Minuten konzentriert arbeiten müsste. Aufgrund der Echzeit-Anforderung findet er dafür aber keine zusammenhängenden Zeit, so dass er die Arbeit an dem Angebot immer wieder unterbrechen muss.
Diese Arbeitsweise ist anstrengend und ineffizient. Der einzelne Mitarbeiter kann aber nichts daran ändern – und Zeitmanagement wird seinen Stress nicht wesentlich reduzieren.
Deswegen wäre es eigentlich nachhaltiger, mit einer ganzen Abteilung am Kontext zu arbeiten. Denn eine ganze Abteilung könnte im obigen Beispiel dafür sorgen, dass jeder regelmäßig „Fokuszeit“ bekommt, weil andere Kollegen in dem Zeitraum den Chat bedienen, Anrufe entgegennehmen und Emails beantworten.
Eigentlich sollte man also als Unternehmen Zeitmanagement-Seminare nur für ganze Abteilungen durchführen.
Das hätte mehrere Vorteile. Auf der einen Seite bietet das einen Rahmen, sich über „best practice“ Tipps auszutauschen. Aber vor allem können Mitarbeiter und Führungskraft in einer solchen Veranstaltung ein ähnliches Verständnis entwickeln, was das individuelle Zeitmanagement in diesem konkreten Kontext schwierig macht und wie man den Kontext verändern könnte, damit jeder einzelne stressfreier arbeiten kann.
Welche Kontext-Faktoren im Job sind es denn nun, die das individuelle Zeitmanagement erleichtern oder erschweren?
Hier die aus meiner Sicht wichtigsten:
Überlastung: Hast Du meistens nur so viel Arbeit, wie Du schaffen kannst – oder ist es meistens zu viel?
Priorisierung: Darfst Du selber über die Wichtigkeit von Aufgaben entscheiden – oder ist die Wichtigkeit von außen vorgegeben (z.B. durch den Chef oder Regeln)?
Achtung: Wenn Du selber über die Wichtigkeit von Aufgaben entscheiden darfst, dann darfst Du im Falle der Überlastung auch entscheiden, welche Aufgaben Du NICHT erledigst. Zu dieser Frage gehört auch, ob Deine („echten“) Entscheidungen vom Unternehmen akzeptiert werden. Wenn dem nicht so ist und Du befürchten musst, für Deine Entscheidungen sanktioniert zu werden, dann darfst Du de facto vielleicht doch nicht priorisieren.
Terminsteuerung: Gibt es für Deine Aufgaben meistens vorgegebene Termine oder Dringlichkeiten (gegeben z.B. durch Kunden, Chef, Kollegen, einen Prozess) – oder hast Du einen großen Einfluss darauf, wann Du etwas machst?
Standardisierung: Sind Deine Aufgaben in der Regeln Standarddinge, die sich wiederholen – oder oft neuartig?
Aufgabengröße: Hast Du eher (viele) kleine Aufgaben (Erledigung < 20 Min.) – oder größere Aufgaben (Erledigung > 20 Min.)?
Kontextwechsel: Bist Du oft gezwungen, von Aufgabe zu Aufgabe zu springen ohne die Aufgaben fertig bearbeitet zu haben – oder kannst Du meistens eine Aufgabe zu Ende bearbeiten, bevor Du mit der nächsten beginnst?
Kommunikationskanäle: Hast Du sehr wenige Kommunikationskanäle (z.B. nur Email und direkte Gespräche) – oder kommen wichtige Informationen oder Aufgaben über viele, verschiedene Kanäle zu Dir (z.B. Email, direkte Gespräche, Telefon, Chat-Systeme, Ticketsysteme)?
Überraschungen: Musst Du oft auf Unvorhergesehenes reagieren – oder kannst Du in der Regel davon ausgehen, dass Deine Planung funktioniert?
Abhängigkeiten: Bist Du auf Zulieferung oder Mitarbeit von anderen angewiesen (z.B. Kollegen oder technische Systeme), um Deine Aufgaben zu erledigen – oder kannst Du meistens unabhängig agieren?
Diese Liste ist sicher nicht vollständig 😉
Vielleicht macht es Sinn, den eigenen Kontext mal zu analysieren und seinen Einfluss auf das eigene Zeitmanagement zu untersuchen? Evtl. kannst Du daraus ableiten, was Du an Deinem Zeitmanagement-System verändern könntest, um noch besser in dem gegebenen Kontext arbeiten zu können.
Oder Du kommst zu der Erkenntnis, dass Dein jetziges System unter den gegebenen Umständen bereits das beste ist. Dann kannst Du Dich innerlich entspannt zurücklehnen: Mehr kannst Du nicht tun 😉